Glaubenmüssen und Glaubenkönnen

Glaubenmüssen und Glaubenkönnen

Der Glaube, heißt es, könne Berge versetzen. Du kannst ganz groß rauskommen, wenn du nur daran glaubst, wollen uns die PR-Abteilungen der Castingshows weismachen. Dabei ist die Sache mit dem Glauben ungleich komplizierter. Über eine Tätigkeit, die uns allzu oft aufs Glatteis führt – und auf die wir doch nicht verzichten können.


Wer »glauben« sagt, der kann zweierlei meinen. Zum einen lässt sich in einem allgemeinen Sinne vom Glauben sprechen. Demnach hat, wer etwas glaubt, eine Vermutung; er tätigt eine Annahme, deren Wahrheit er eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit beimisst. Zum anderen findet das Wort »glauben« auch in einem religiösen Sinne Verwendung. Ein solcher religiöser Glaube ist mehr als ein Akt des Vermutens: Wer (im Sinne der großen Weltreligionen) gläubig ist, setzt sich in ein Verhältnis zu einer Gottheit, was nicht nur bedeutet, dass er von der Existenz dieser Gottheit ausgeht – also eher eine Hoffnung oder gar eine als Gewissheit empfundene Meinung mit sich trägt –, sondern auch, dass er sich dadurch bestimmte Pflichten auferlegt, zum Beispiel jene, in der Welt Zeugnis von seinen
religiösen Auffassungen abzugeben.

Ernst gemeinter, kompromisslos gelebter religiöser Glaube ist hierzulande zur Ausnahmeerscheinung geworden. Man kann das als Spätfolge der Aufklärung betrachten, die ja die religionskritische Einsicht mit sich brachte, dass der menschlichen Erkenntnisfähigkeit prinzipiell der Zugang zur Wahrheit über die Existenz Gottes entzogen ist. Aber vielleicht ist das zu kompliziert gedacht. Mir scheint es jedenfalls so, als spielten in Bezug auf die Frage, ob ein Glaube für ein Individuum annehmbar ist, solche erkenntnistheoretischen Probleme eine geradezu untergeordnete Rolle. Viel entscheidender dürfte sein, ob die an die Religionsausübung gekoppelten ethischen Ge- und Verbote als lebbar betrachtet werden.

Das lässt sich ganz gut an der katholischen Kirche verdeutlichen. Viele Leute regen sich – nicht zu Unrecht – über Kondomverbote und die bigotte Homosexuellenfeindlichkeit katholischer Priester und Theologen auf. Gleichzeitig ist es aber auch erstaunlich, wie wenig man sich an mindestens ebenso abenteuerlichen dogmatischen Positionen stößt. Katholisch Aufwachsenden wird von der jungfräulichen Geburt eines immermanns-»Sohnes« erzählt, vom Konzept eines Erlösers, der nicht nur in der Lage ist, entgegen allem, was wir über Kausalität, Zeit und Raum wissen, die Sünden vergangener wie zukünftiger Menschen gleichsam in sich zuabsorbieren, sondern der zugleich Mensch und Gott, allmächtig und endlich sein soll. Und offensichtlich vermag nicht einmal das Elend, das jeden Tag auf der Welt passiert, auch Christen passiert, die Glaubensvertreter davon abzubringen, von der nicht enden wollenden Güte ihres Gottes
überzeugt zu sein.

Das Leben nötigt uns ständig dazu, Dinge zu glauben, die wir nicht nachprüfen können

Mich hat die Indifferenz der meisten Menschen, die sich selbst als gläubig bezeichnen, gegenüber diesen und unzähligen anderen Inkonsistenzen, Widersprüchen und ebenso offenen wie unbeantwortbaren Fragen der katholischen Glaubenslehre immer irritiert. Vielen der jungen Leute, die innerhalb anderer religiöser Traditionen erzogen wurden, dürfte es da ähnlich gehen. Da tut sich die – vielleicht etwas plakativ anmutende, aber, wie ich glaube, dennoch berechtige – Frage auf: Wie kann man auch nur auf die Idee kommen, all die Geschichten von Himmeln und Höllen, Göttern, Engeln und Wundertaten, Propheten und Erleuchteten wirklich und aufrichtig glauben zu wollen?

Was den christlichen Glauben betrifft, so lässt sich sicher sagen, dass die Theologen im Laufe der Jahrhunderte unvorstellbare intellektuelle Anstrengungen unternommen haben, um in ihren Lehren Konsistenz zu schaffen. Vieles davon ist tausendmal ausgefeilter, klüger und tiefgründiger, als es so mancher Religionskritiker von heute für möglich halten würde. Eine gerade von modern gesinnten Christen oft geäußerte Antwort auf den Einwand, ein vernünftiger Mensch könne all die Religionsinhalte doch unmöglich glauben, finde ich besonders interessant. Sie lautet: Man darf das alles eben nicht für bare Münze nehmen. Die Geschichten, von denen uns beispielsweise die Bibel erzählt, seien nun einmal in bestimmten historischen Kontexten entstanden, außerdem sei vieles eher im metaphorischen Sinne zu verstehen.

So einleuchtend das klingt, löst es die Probleme nicht auf. Denn mag der Gläubige auf diese Weise auch einige Glaubensinhalte relativieren können – irgendetwas von all dem muss er doch für bare Münze nehmen, sonst ist er kein Gläubiger mehr. Wenn ich etwa die Bibel als vollständig menschengemachte und daher reichlich unpräzise, fehlerbehaftete Darstellung historischer Ereignisse betrachte, deren Wahrheitsgehalt durch mündliche Wiedergabe, durch Dazu- und Umdichten, durch das Prinzip »stille Post« bis zur bloßen Legende verwässert wurde, wo ist dann noch Platz für göttliche Offenbarung? Wer wirklich gläubig sein will, der kann von bestimmten Positionen nicht einfach abrücken. Dass etwa Jesus von Nazareth Gottes Sohn gewesen sein soll, ist für einen Christen nicht verhandelbar. Solche unhintergehbaren Postulate dürfte es in den meisten, vielleicht in allen Religionen geben.

Unter dieser Prämisse aber wird der Glaube zu einem Schritt hinein in die Dunkelheit, wird zu einer Spielart blinden Vertrauens. Der Philosoph Søren Kierkegaard hat den Übergang zum Glauben treffend als eine Art Sprung beschrieben, der vom Glaubenden aktiv und gleichsam ohne Absicherung unternommen werden muss. Ein Sprung in die Irrationalität? Oder, positiv gewendet, ein Sprung über die Rationalität hinaus? Aus der Sicht kritischer Atheisten scheint der religiöse Glaube jedenfalls eher eine Form von Selbstauslieferung an den Wahnsinn zu sein.

Der Rest des Lebens, mag man einwenden, unterscheidet sich, was das blinde Vertrauen betrifft, eigentlich nicht wesentlich von der Sphäre des Religiösen: Wir alle, ob wir nun Katholiken, Muslime, Agnostiker oder Atheisten sind, müssen ständig Dinge glauben, die wir nicht nachprüfen können; wir leben ohne Netz und doppelten Boden, was die Gewissheit betrifft, dass unsere Überzeugungen auch tatsächlich Entsprechungen in der Realität haben. Man sollte zwar, sagt der Erkenntnisskeptiker, nicht alles glauben, nicht einmal das, was man mit eigenen Augen sieht – gleichzeitig muss man vieles davon glauben, um im Alltag überhaupt überleben zu können.

Nicht jeder Glaubensinhalt ist gleich plausibel

Der Durchschnittsbürger glaubt, dass das, was er in der »Tagesschau« sieht, Ereignissen entspricht, die wirklich stattgefunden haben. Der Wissenschaftler glaubt daran, dass die Ergebnisse, die seine Fachkollegen in »Nature« publizieren, nicht gefälscht sind und Aussagen enthalten, auf denen man guten Gewissens seine eigene Forschung aufbauen lassen kann. Wir glauben daran, dass der Kommilitone, mit dem wir gerade am Mensatisch sitzen, tatsächlich existiert. Nicht einmal das können wir mit allerletzter Sicherheit überprüfen, wie sollten wir auch. Wieso also nicht auch an die unbefleckte Empfängnis glauben, die wir ja genauso wenig verifizieren oder falsifizieren können?

Mir scheint das kein guter Einwand zu sein. Mit diesem Argument kann ich auch an grüne Elefanten glauben, die unsere Gedanken an jedem zweiten Dienstag im Monat beeinflussen. Oder an eine Weltverschwörung der Postboten. Oder an den Weihnachtsmann. Nur weil wir im Alltag gezwungen sind, ständig Dinge zu glauben, die wir nicht nachprüfen können, heißt das nicht, dass alles, was geglaubt werden kann, auch in gleicher Weise geglaubt oder nicht geglaubt werden sollte. Natürlich könnte es – theoretisch – sein, dass der Boden, den ich unter meinen Füßen spüre, kein echter ist, und dass ich, wie im Film »Inception«, nur durch einen sehr intensiven Traum wandle. Nur: Die Annahme, dass dieser Boden wohl irgendwie »echt« sein muss, hat sich im Alltag – im wahrsten Sinne des Wortes – als tragfähig erwiesen: Ich kann auf diesem Etwas laufen, gehen, tanzen und springen, und wenn ich bei all dem das Gleichgewicht verliere und mein Kopf Bekanntschaft mit dieser ominösen Substanz macht, passiert erfahrungsgemäß in zehn von zehn Fällen das: Aua.

Es spricht also vieles dafür, dass ich an die Existenz des Bodens glauben sollte, so wie allgemein vieles dafür spricht, die Faustregel, dass das, was wir in unmittelbar-sinnlicher Weise wahrnehmen können, keine Illusion ist, beizubehalten. Bei Nachrichten aus aller Welt sollte man schon skeptischer sein, bei diffusen Gerüchten in noch viel höherem Maße. Und was ist mit religiösen Glaubensinhalten? Der Glaube sei, heißt es im Neuen Testament, »eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht« (Hebräer 11). Nun sollte sich jede Zuversicht, vor allem aber jeder Verzicht auf Zweifel aus guten Gründen speisen, sonst wird der Glaube zu einer naiven Projektion der eigenen Wünsche. Ob der gute, alte Katholizismus dieser Prüfung standhält?

Text: Franz Himpsl
Grafik: Christian Basl

Der Essay „Glaubenmüssen und Glaubenkönnen“ erschien zuerst in der Printausgabe unter dem Thema „glauben“ im Juli 2012.

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