Stories | Blind

Stories | Blind

Noch eine Sirene explodiert über der Altstadt. Ich reibe mir die Augen, taste nach der Brille. Weg. Sie muss unter den Gartenstuhl gerutscht sein, als ich einnickte, oder sie versteckt sich im Gras. Ich stehe auf, stecke den Einmerker zwischen die Buchseiten und schlurfe hinüber zum Zaun.

„Ein Glück“, rufe ich durch die grünen Drahtmaschen, „Der Schinken war sterbenslangweilig.“

Ich mustere konzentriert den gelben Liegestuhl. Es scheint mir, als ob jemand in ihm sitzt, aber ich täusche mich: der Nachbar antwortet nicht. Das hat man von seinen -6,25 Dioptrien. Leidenschaftslos durchkämme ich das Gras, obwohl ich weiß, dass man Dinge nur findet, wenn man sie nicht sucht. Diese Brille insbesondere. Ich fand es damals schick, sie randlos zu kaufen (Der Optiker fand es schick und beschwatzte mich.), jetzt lasse ich sie ständig liegen und finde sie nicht mehr – als sei ich um dreißig Jahre gealtert und reif für die Rente.

Ein Knall zerfetzt die Luft. Aus der Hecke hebt sich ein pfeilförmiger Schatten und saust davon.

Brennt es? Ich schaue zur Altstadt hinauf. Die Giebel und Balkone und Erker verschwimmen vor meinen schwachen Pupillen zu einem unförmigen Tintenklecks. Hinter dem Hügel strahlt der Himmel blau. Ich erkenne keinen Rauch, aber das will nichts heißen.

„Hierher!“

Ich lasse mich ins Gras sinken und spähe nach der Brille. Eine zweite Sirene springt an, ganz in der Nähe.

„Hierher, sage ich!“

Ich blicke auf und werde auf die Beine gezerrt.

„Wer … sind Sie?“

Er rammt mir etwas Spitzes in den Rücken: „Gehen!“ Eine junge Stimme, übelriechend wie Schuhcreme und noch schmieriger. Vor meinen Augen entsteht das Bild eines blonden, frisch rasierten Kerls mit schmalen Lippen. Ich wage es nicht, mein Gesicht seinem zu nähern, um die Vermutung zu bestätigen.

„Na wird’s bald! Oder sind Sie auch …?“ Er trägt einen langen Stock in der Hand und erst, als er ihn gegen mich richtet, wird mir klar, dass auf mich gezielt wird.

„Schon gut!“, rufe ich und strecke die Hände in die Höhe, „Gehen Sie durch die Veranda ins Innere. Das Geld ist im Schla…“

„Bewegung!“, er schlägt mir gegen die Schulter, etwas fester. Als ich mich immer noch nicht rühre, packt er meinen Arm und zerrt mich mit.

„Was haben Sie sich dabei gedacht?“, knurrt er. Das Gartentor begleitet ihn mit kehligem Krächzen.

Ich will ihm sagen, dass ich Andreas Wilhelm Neumüller heiße, Beamter in der Stadtverwaltung, durchschnittliches Nettoeinkommen, unverheiratet aber unterhaltspflichtig, zu jung für größere Ersparnisse. Das bisschen Lösegeld ist doch die Mühe nicht wert, Junge! Meine Lippen kleben aneinander.

Ich sehe die Häuser milchig vorbeischwimmen, als steckte ich in einer Glasflasche mit fünf Meter dicken Wänden. Nur dank der Farben kann ich meine Umgebung erahnen: grün das sind die Hecken und Bäume, schmieriges Pastell die Häuser, rot die Autos.

„Sehense?“, der Kerl deutet auf die andere Straßenseite, „Kommt davon. Die Leut kleben zu viel an ihrem Scheiß, Geld, Auto, was auch immer, die kann man nicht wegbringen.“

„Sie können das Geld haben.“ Ich wundere mich, wie deutlich meine Stimme klingt, klar vor dem trüben Nebel, der mich in seinen Klauen hält. „Sie können …“

„Was reden Sie da? Haben Sie nicht Radio gehört?“ Er brüllt jetzt, weil gleich zu unserer Linken eine Sirene aufkreischt. Ich erkenne den Umriss von etwas, was mit viel Phantasie ein Auto sein könnte. „Sie können von Glück sagen, dass ich Sie zufällig … Scheiße Mutter Gottes!“

Die Straße vor uns krabbelt. In hektischen, gierigen Schüben kommt sie auf uns zugerast.

„Keine Panik!“, brüllt der schmallippige Kerl und hebt sein Gewehr, „Die Zone wird …“

Er stößt mir in die Rippen, dann nochmal, links, rechts, überall sind jetzt Menschen. Seine Stimme geht in einem Meer von Sirenen- und Menschenschreien unter. Ich werde mitgeschleift, falle, lande auf den Knien, jemand reißt mich hoch, „Arschloch!“, „Pass auf!“, taumle drei Schritte durch ein Dickicht aus Beinen, stolpere, man tritt mir ohne zu zögern in den Rücken, schaffe es wieder auf die Beine, um mich ist nichts als Lärm, Lärm und eine unförmige, gesichtslose Masse schleppt mich mit sich. Ausgebleichte Dachschemen schweben durch den Himmel, eine Spukstadt, keine zwei Blöcke von meinem Haus entfernt. Das Gesicht eines Schulmädchens treibt direkt vor meiner Nase vorbei, für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich sie scharf, sehe zwei grelle, weiße Pickel am Rand ihrer Nase und blondierten Flaum auf der Oberlippe, in ihren Augen steht Schmerz geschrieben, „Schneller!“, eine Sekunde später verschluckt die Masse sie. Die Rufe mehren sich. „Geht weiter!“, „Was dauert das so lange?“, ein Ellenbogen versucht auszubrechen, aber bleibt eingeklemmt, das Tempo lässt sich nicht steigern, wir sind alle ineinander verkeilt wie Teile eines Puzzles. Ein träge schaukelnder Totenmarsch. „Ruhig!“ „Gebt acht!“ „Wieviele sind wir?“ „Ihr trampelt ihn tot!“ „Zehntausend müssen es sein!“ „Zurück!“ „Evakuiert, hat er gesagt.“ „Halten Sie Ihre Schnauze!“ „Die ganze Stadt.“ „Da geht’s nicht vorwärts.“  „Es ist schon überall.“ „Gott sei uns gnädig.“ „Toronto, Paris.“ „Ihr trampelt ihn tot.“ „Zehntausende, Herrmann, ganz im Ernst.“

Der Strom spuckt mich aus. Ich lehne an einer Hauswand, jeder Atemzug reißt meinen Brustkorb entzwei.

Rechts huscht ein Schatten vorbei, ich halte ihn fest: „Sie da! Was ist hier los?“

„Haben Sie keine Augen im Kopf?“, er schubst mich weg.

Eine Gestalt im Nadelstreifenanzug torkelt einen Moment lang ganz nahe an mich heran. Sein Kopf schwimmt vor Röte.

„Ruhe!“ Eine verzerrte Stimme, vervielfacht durch ein Megaphon. „Hört mir zu!“

„Halt die Schnauze!“, „Wer ist das?“, „Halt du sie doch!“

Jetzt stehen wieder mehr Menschen um mich herum, ich höre das ungeduldige Scharren ihrer Füße, das dumpfe Murmeln derer, die sich nicht trauen vorzutreten, aber auch nicht die Augen abwenden können.

„Wer ist dafür zu kämpfen?“, ruft der Megaphonmann.

Vereinzelte Rufe.

„Ich weiß, dass ihr Angst habt“, fährt er fort, „Ihr habt gehört, was mit den anderen passiert ist.“

Schweigen breitet sich aus, krallt sich fest, sickert in die Menschen ein.

„Ihr wollt nicht so werden. Ich verstehe das. Jeder, der will, kann jetzt nach vorne kommen und meine Waffe nehmen. Jeder, der will, kann sich eine Kugel in den Kopf jagen.“

Ich sehe mich um, doch die farbigen Flecken tanzen einen bunten, sinnlosen Reigen auf meiner Netzhaut.

Einige Stimmen melden sich, zögernd – ein, zwei auch wild entschlossen.

„Was ist hier los?“, rufe ich, „Seid ihr alle wahnsinnig?“

„Schhht!“, macht jemand neben mir.

„Ich will lieber sterben als das“, kam von links.

Ich presse meine Handflächen an die Hauswand, beiße mir auf die Unterlippe, schließe die Augen. Ich nehme die Schüsse gar nicht wahr. Sie müssen unglaublich laut sein, aber ich höre sie nicht, sehe sie nicht. Fast. Jemand schreit. Ein Kind weint. Jemand sagt „Oh mein Gott“, ununterbrochen, wie ein endloses Stottern.

„Was ist hier los?“, frage ich nochmal.

Eine Hand auf meiner Schulter. Eine warme Stimme, ein Gesicht, das zu weit weg ist, aber zu einem freundlichen Riesen mit breiter Stirn gehören muss. Mit Lachfalten um die Augen.

„Gehen Sie!“, sagt er, „Gehen Sie, solange die Ruhe in Ihnen wohnt.“

„Die was … ? Was geschieht hier?“

„Sie haben kein Radio gehört? Nichts gesehen?“

Ich schüttle den Kopf, dann füge ich schnell: „Nein“ hinzu, als wäre er der Blinde und nicht ich. „Schätzen Sie sich glücklich. Gehen Sie einfach.“

„Aber was …?“

„Immer in die Berge, hören Sie? In den Bergen überleben selbst die archaischsten Zivilisationen. So war es immer in der Geschichte. Wenn, dann in den Bergen.“

„Zivi…?“

„Nun gehen Sie schon! Immer schön langsam. Lassen Sie sich nicht von den anderen mitziehen.“

„Wieso wollen Sie mir nicht sagen …?“

„Wenn ich es Ihnen sagen würde, hätten Sie Ihren Vorteil verspielt.“

Dann ist die Stimme schon verschwunden, zurückgeglitten in die Masse. Ich stehe noch eine Weile da. Der Mann mit dem Megaphon zählt laut die Waffen. Er erklärt, wie man durch Kimme und Korn zielt.

Ich drücke mich an der Hauswand entlang, bahne mir einen Weg durch die gesichtslosen Menschenleiber, bis ich sie hinter mir gelassen habe. Ich kann die Sonne erkennen, hoch oben am Himmel steht sie und verbrennt meine schwachen Augen. Das muss Süden sein. Langsam mache ich mich auf den Weg.

 

Text von D.O.

Schreibwerkstatt Salamander

Die Schreibwerkstatt Salamander wurde im Sommersemester 1996 in Zusammenarbeit mit der Uni Regensburg gegründet. Inzwischen organisiert sie sich selbst, uni-unabhängig und demokratisch. Sie dient bei den wöchentlichen Treffen bis heute als Diskussionsforum für eigene Texte und als Versuchsraum für gemeinsame Sprachexperimente. Einmal im Semester veranstaltet der Salamander eine Lesung mit eigenen Texten und musikalischer Untermalung. Wer selbst schreibt, wer sich gern in Literaturkritik übt oder einfach Spaß am Umgang mit Sprache hat ist jederzeit willkommen.

Interessiert? Dann schreib an eine E-Mail an Schreibwerkstatt-Salamander [at] web.de

Autorenportraits und Leseproben gibt es unter: http://schreibwerkstatt-salamander.jimdo.com

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert