Studieren in Zeiten des Bürgerkriegs | Syrische Studenten an der UR berichten

Studieren in Zeiten des Bürgerkriegs | Syrische Studenten an der UR berichten

»2012 saß ich sieben Tage lang im Gefängnis. Ich lebte auf dem Land. Als die Revolution begann, gab es dort starken bewaffneten Widerstand. Ich musste täglich mit dem Bus zur Uni fahren. An jenem Tag war ich von der Uni aus auf dem Weg nachhause. Der Bus fuhr durch einen Bezirk unter Regierungskontrolle und endete in einem von Rebellen kontrollierten Gebiet. Ich wollte vorher aussteigen. Doch ich wurde verhaftet, weil ich in Richtung gegnerischen Gebiets unterwegs war.« (Mohamed A., Damaskus)

von Carla Steinbrecher

Das Irritierende ist nicht der Schrecken des Gefängnisaufenthalts, sondern die Gleichzeitigkeit von Mohamed A.s Erinnerung und seiner physischen Anwesenheit in der PT-Cafete. Um ihn herum das an- und abschwellende Summen koffeinabhängiger Bibliotheksdeserteure, gegenüber das ZHK flimmernd hinter kaffeegetränkter Heizungsluft, irgendwo segelt ein Blatt Papier zu Boden. Hinter Mohamed A.s müdem Blick zieht die Erinnerung an die Schreie der Mitinsassen vorbei. Gelassen und versiert erzählt er dann, was ihm am Ende Folter und Tod ersparte. Immer häufiger trifft man an der UR auf syrische Studenten. Täglich besuchen sie von 8:30 bis 14 Uhr die studienvorbereiteten Deutschkurse. Wie bereits in der letzten Ausgabe der Lautschrift zu lesen war, werden sie im Rahmen eines Mentoring-Programms unterstützt. Das Themencafé, das auf ihre eigene Initiative zurückgeht, wird auch dieses Semester weitergehen und sucht engagierte deutsche Sprachanimateure. Für die syrischen Studenten ist dies oft die einzige Möglichkeit, mit Deutschen in Kontakt zu kommen: Sie wohnen noch immer isoliert in Aufnahmestellen außerhalb von Regensburg und haben teilweise einstündige Anfahrtswege. Man erwartet von ihnen, dass sie Deutsch lernen und sich integrieren – sich an uns anpassen, egal wie. Doch um wen handelt es sich eigentlich? Im Themencafé erlebt man als Deutscher so manche Überraschung: Statt über die Regensburger Kneipendichte, diskutiert man plötzlich über Nietzsche. Man trifft gelernte Bäcker, Amerikanistikstudenten, Menschen aus Damaskus, Aleppo, Latakia, Christen, Muslime, Atheisten. Sie beginnen nicht bei null, sie sind keine un- beschriebenen Blätter, auf die sich sofort das deutsche Alphabet pinseln lässt. Sie sind nicht nur Bürgerkriegsflüchtlinge, sondern auch Studenten. Wie bewältigt man ein Studium in einem kriegszerrütteten Land? Warum haben viele von ihnen zwar studiert, aber keinen Abschluss? Warum flüchten mehr junge Männer als Frauen? Inwiefern wurde die Revolution 2011 und später der Bürgerkrieg in den Universitäten ausgetragen?

Für diesen Artikel habe ich drei syrische Studenten interviewt:

Mohamed A. (22) kommt aus Harasta im damaszener Umland, studierte medizinische Laborassistenz an der Universität Damaskus und ist seit etwa sechs Monaten in Deutschland. An der UR möchte er Medienwissenschaften studieren. Er sagt: »Die Studenten suchen zurzeit auch einfach nach Liebe.«

Ghiath (21) kommt aus der Küstenstadt Tartus, ist Christ und studierte in Damaskus Französische Philologie. In Deutschland möchte er Psychologie oder Maschinenbau studieren. Er lebt seit Mai 2014 in Deutschland. Er sagt: »In Syrien gibt es keine Freiheit. Es geht immer und überall um Vitamin B.«

Mohamed H. (23) kommt aus Latakia und studierte Amerikanistik an der Tischrin-Universität. Er ist seit sechs Monaten in Deutschland und wohnt in Bad Abbach. Er möchte an der UR Amerikanistik und Medieninformatik studieren. Er sagt über Assad, Revolution, Bürgerkrieg & Co: »They so fucked it up. We so fucked it up.«

1. Notfallgleis Studium

Alle drei flüchteten weder aus wirtschaftlichen Gründen, noch aus politischer Verfolgung im engeren Sinne. Die Heimatregion von Ghiath und Mohamed H. zum Beispiel ist eine Hochburg der alawitischen und christlichen Minderheit und fest in der Hand der Regierung. Die meisten Flüchtlinge seien junge Männer, heißt es – gerne in Kombination mit dem Vorwurf, sie würden Heimat und Familie im Stich lassen. Zeit, den grundlegendsten aller Fluchtgründe klarzustellen: Den Wehrdienst. Seit jeher gibt es in Syrien einen Pflichtwehrdienst für Männer. Vor dem Krieg war dieser sehr populär, denn er bedeutete: Männlichkeit, Reife und Ausdruck des eigenen Nationalstolzes. Im Gegensatz zu anderen arabischen Ländern bestand dieser Nationalstolz über Religionsgrenzen hinweg, sie spielten eine untergeordnete Rolle – man war in erster Linie Syrer. Dafür ist seit Jahrzehnten die politische Linie der Baath-Partei verantwortlich, deren Ideologie ein arabisches, säkulares Großsyrien favorisiert. Den Wehrdienst kann man nur durch ein Studium aufschieben. Ihm ganz zu entgehen, ist unmöglich – es sei denn, man ist als einziger männlicher Nachkomme seiner Eltern für die Versorgung der gesamten Familie verantwortlich. Ist das Studium nach vier Jahren beendet, wird man mit Erhalten des Zeugnisses eingezogen. Seit 2011 füllten sich daher die syrischen Universitäten mit Studenten. Doch der Krieg dauerte im März 2015 genau vier Jahre. Nicht verwunderlich also, dass genau im Sommer 2015 viele junge Männer nach Europa flüchteten. Sie waren im letzten Studienjahr und hatten gehofft, dass der Krieg innerhalb von vier Jahren enden würde. Verfolgt man das militärische Geschehen in Syrien, die politische und konfessionelle Zerfaserung der Gesellschaft und die ausbleibenden Erfolge der Syrien-Konferenzen, wird klar, dass diese Rechnung weit davon entfernt war und ist, aufzugehen. Der Gedanke an Flucht kam vielen jedoch bereits 2013. Infolge der schwachen Reaktion der Internationalen Gemeinschaft auf die Chemiewaffen-Angriffe des Regimes, verlor man das Vertrauen in Hilfe von außen. Spätestens 2014 realisierte man, dass der Krieg weiter andauern würde und es dem syrischen Militär allmählich an menschlichem Material zu mangeln begann. Mohamed H. berichtet: »Die Regierung begann Studenten einzuziehen, auch wenn sie den Wehrdienst legal aufgeschoben hatten. Die haben einfach das Dokument zerrissen. Die Menschen wurden wahnsinnig vor Angst. Man konnte es in ihren Augen sehen. Alle dachten: ‚Wir müssen weg!’« Man wollte nicht auf Seiten des Regimes kämpfen, dessen repressive Politik man ablehnte. Doch für ISIS, die von Islamisten durchsetzte Freie Syrische Armee, al- Nusra, al-Scham und andere genau so wenig. Die Glücklichen, so Ghiath, hätten Vitamin B. Er benutzt diesen Ausdruck metaphorisch für persönliche Verbindungen zu Leuten, die für die Regierung arbeiten und gegen Geld bestimmte Dinge wie zum Beispiel eine Wehrdienstfreistellung erreichen können. Der Vater eines Freundes habe im Dienst der Regierung gestanden und damit viel Vitamin B gehabt. Er habe Wehrdienstfreistellungen bewilligen können – aber auch nur gegen eine gewaltige Summe Geld.

2. Gimme, gimme more – 1000 Dollar, um zu bestehen

An den Universitäten entstanden viele Probleme – die Korruption nahm zu, bis hin zu Fällen von Prostitution. Das erste Problem sei die Verschlechterung der Lernqualität: »Die guten Lehrer verließen das Land, die schlechten blieben. Sie nutzen die Situation aus.«, sagt Mohamed A. Um zu bestehen, käme es immer weniger auf Stoffsicherheit, sondern auf finanzielle Mittel an. Vor allem in Aleppo und Latakia sei das so. Es gebe auch viele Lehrkräfte, die ihren Abschluss von mafiösen, russischen Organisationen erkauft hätten. Wer sich durch Korruption Vorteile verschaffen könne, tue dies unbehelligt. Zum Beispiel würde das Kind eines Offiziers studieren, egal ob die Noten dafür ausreichten. »Wenn mein Vater will, dass ich studiere und er Verbindungen hat, bezahlt er einfach die Regierung dafür. Dieses Problem ist während des Kriegs gewachsen.« Mohamed H. erzählt von einem mächtigen, weil regimetreuen Dozenten, der, nachdem er die Lektüre für das kommende Semester vorgestellt hatte, hinzufügte: »Dieses Fach kostet euch 40.000 Syrische Lira oder 1000 Dollar.«  Auch die Verwaltungsangestellten der Uni verlangten Geld für die Bearbeitung der für eine Immatrikulation notwendigen Dokumente. »Entweder du zahlst oder du wartest bis an dein Lebensende.« An der Baath-Universität in Homs seien im Laufe des Krieges Fälle von Prostitution in Studentenwohnheimen aufgedeckt worden. Angestellte der Universität, unter anderem der Vizepräsident und der Präsident, seien involviert gewesen. Es sei mittlerweile durchaus verbreitet, dass Studentinnen für bessere Noten bzw. Bestehen der Prüfung mit ihren Dozenten schliefen. Vor dem Krieg sei derartiges noch nicht üblich gewesen – damals hätte man nur Geld genommen, denn »Geld ist viel sicherer«.

3. Verschwunden, vom Freund verprügelt, bewaffnet – der Morgen nach der Revolution

Lehrende, die nicht nur über fachliche Exzellenz, sondern auch soziale Intelligenz verfügen, sehen es normalerweise als ihre Pflicht an, Missstände in dem System anzuprangern, das sie beschäftigt: Der Staat. In Syrien sympathisierten viele Dozenten mit der Revolution. Doch sie verschwanden selbst bei den subtilsten Äußerungen. Ein Dozent von Mohamed H. sagte nur: »Warum geben sie den Leuten nicht ein paar Rechte?« und war verschwunden. »An der Universität kann man nicht sagen, was man denkt.«, sagt Mohamed H.  Dabei versuchen die syrischen Universitäten das europäische humanistische Bildungsideal zu kopieren. Doch was bleibt davon übrig – ohne Redefreiheit? Degenerierte, pseudohumanistische Lehrapparate vielleicht. Selbst die architektonischen Versuche in Latakia, die Pariser Sorbonne zu imitieren, schlugen fehl. »They really fucked it up.«
Die Revolution erreichte trotzdem die Universitäten. Mohamed H. erzählt, er habe gerade mit Freunden in der Mensa der Fakultät für Ingenieurswesen wie hier in der PT-Cafete gesessen, als plötzlich draußen eine große Flagge der Revolution und ein paar maskierte Studenten auftauchten. Am 3. Mai 2011 zeigten syrische Medien Bilder der ersten großen Demonstration an der Universität Aleppo. Große Menschenmassen ziehen skandierend über den Campus: »Assad raus!«. Alles hatte zwei Monate zuvor mit der Verhaftung von Kindern in der südsyrischen Stadt Daraa begonnen. Diese waren für den Graffiti »Das Volk will den Sturz des Regimes« von den lokalen Behörden verhaftet und gefoltert worden. Die gewaltsame Auflösung der Proteste in Daraa hatte eine Protestwelle in anderen syrischen Städten hervorgerufen. Die Demonstration an der U. A. war ein Akt der Solidarität: »Wir hier in Aleppo werden Syrien keine Schande sein und zusehen, wie unsere Brüder abgeschlachtet werden.« Ein Jahr später am 17. Mai 2012 bejubelt eine riesige Menschenmenge immer noch fanatisch das Hissen der schwarz-weiß-grünen Flagge mit den drei roten Sternen. Nach der Examensphase – der Zeitpunkt war sicher nicht grundlos gewählt – protestierten am 28. Juni 2011 Frauen vor der Baath-Universität in Homs. Einen Monat zuvor am 23. Mai 2011 hatten Studenten dort ihre Personalausweise verbrannt und sich geweigert ihre Examina zu beenden, bevor das Regime nicht abgedankt hat. Auf ihren Plakaten stand unter anderem auf Englisch: »I am not [a] terrorist. I am Syrian. I want freedom« und »Syrian people want freedom». Derartige Aufnahmen sind zarte Pflänzchen des anfänglich unbewaffneten Aufstandes, der durch aktive Mithilfe Assads kontinuierlich von religiös-fundamentalistischen Gruppierungen unterwandert wurde, sich bewaffnete und zu jenem sektiererischen Krieg entartete, der sich uns fünf Jahre später präsentiert. Bombenanschläge und Raketenangriffe ereignen sich oft in der Nähe der Universitäten, vielerorts musste der Lehrbetrieb eingestellt werden. Am ersten Tag der Klausurenphase in Aleppo im Jahr 2013 erschütterten während Raketenangriffen zwei Explosionen die Fakultät für Architektur und das Studentenwohnheim. Über die Ursache und die Höhe der Opfer geben Rebellen und Regierung wie immer konträre Aussagen ab: Der mediale Wahnsinn und die Manipulation von Informationen ist auch ein bedeutender Kriegsfaktor: 50 oder 100 Todesopfer? Wer ist der Mörder meines Bruders, meiner Kommilitonin oder Dozentin? Auf wessen Seite bin ich? Wo zuvor Menschen gleich welcher Ethnie und Religion befreundet waren, taten sich Gräben auf. Mohamed H. berichtet von der Tischrin-Universität, wo sich sich zwei Gruppen gebildet hätten. Zuvorderst die Gangs der Regimetreuen in Militäruniform. »Neben ihnen wirkten wir wie kleine Nerds. Sie hatten große Autos, Waffen und so weiter. Sie durften die Uni mit Waffen betreten. Sie haben die Studenten verprügelt, die etwas regime-kritisches geäußert haben, zum Beispiel auf Facebook. Sie beobachten einfach alles. Sie arbeiten buchstäblich gegen jeden Studenten.« Dafür erhielten sie Geld und Schutz vom Staat. Ihre Aufgabe sei schlicht, Angst zu verbreiten. »Einmal sah ich, wie sie einen Freund von mir zusammenschlugen. Doch ich darf nichts sagen, noch nicht einmal auf Facebook. I will shut up.«

4. Money, money, money, must be funny in a rich man’s war

Durch den Krieg ist schon allein der Weg zur Uni eine Tortur. Wer außerhalb wohnt, muss stundenlang zu Fuß laufen oder mit dem Bus in die Stadt fahren und zahlreiche Checkpoints passieren. Manchmal kann der Bus wegen der Kämpfe nicht weiterfahren. Kommt man aus rebellenkontrollierten Gebiet wie Mohamed A., prüfen sie bei jedem, ob sein Name in den Datenbanken zur Fahndung von Terroristen auftaucht. Trägt man den gleichen Namen wie ein Gesuchter, kann man einfach verhaftet werden. Wer Einspruch erhebt, so Mohamed A., wird – er schießt mit der Hand an die Decke der PT-Cafete. Über zu spät erscheinende Studenten regt sich seit langem kein Dozent mehr auf – gesetzt den Fall, er selbst schafft es pünktlich. Zuhause haben die Studierenden je nach Standort keine oder nur selten Elektrizität. Damit auch kein Internet – was wäre ein Student unserer Breitengrade ohne Internet? Manchmal gäbe es kein Wasser zum Trinken und Waschen. Im Winter friert man: Das Gas zum Heizen ist mittlerweile zu teuer. Insgesamt leide das Land unter Inflation. All das verhindere ein konzentriertes Studium. Wegen der Geldprobleme käme es Mohamed A. zufolge sogar zu Intrigen innerhalb von Familien: Menschen lieferten ihren Bruder der Regierung aus, um dafür eine Prämie zu kassieren. Die finanziellen Probleme zwingen viele, ihr Studium zu unterbrechen. Die Sorgen und Existenzängste wirken sich erheblich auf die Lernkapazität der verbleibenden Studierenden aus. »Hier in Deutschland kann man sich aufs Lernen konzentrieren«, sagt Ghiath. »Hier lernt man nur und Punkt.« Wenn man müde ist, könne man aufhören. In Syrien lerne man nicht, viele gingen lieber zur Arbeit, um ihre Familien durchzubringen. Sie arbeiteten, lernten einen Monat vor der Prüfung und versuchten so zu bestehen. »Ein Typ im ersten Semester meinte einmal zu mir, er wisse gar nicht, wo die Uni ist – er sei noch nie dort gewesen.«, sagt Giath. Er sei aber am Ende auch durch die Prüfung gefallen.
Ständige Explosionen, der Verlust geliebter Menschen und die permanente Anspannung führen zu schweren psychischen Problemen. Manch einer erzählt von kleinen Geschwistern, die so an die Detonationsgeräusche gewöhnt sind, dass sie nicht einschlafen können, wenn es ruhig bleibt. Durch die emotionale Belastung können junge Menschen ihr Studium kaum genießen. Dazu kommen Sehnsüchte, die alle Menschen teilen: »Viele Studenten suchen zurzeit auch einfach nach Liebe.«

5. Deutschland vs. Syrien

Die Unterschiede zwischen den Universitäten in Syrien und Deutschland sind enorm. Das be- ginnt bereits beim Studieneintritt. Was man studieren kann, ist in Syrien noch stärker als in Deutschland vom Notendurchschnitt abhängig. Wie in Deutschland ist Medizin das Fach, für das man die höchste Anzahl an Punkten braucht, während Jura sehr niedrige Zulassungsbeschränkungen hat. Mohamed A. begründet diesen Umstand damit, dass in seinem Land ohnehin nichts rechtmäßig von statten gehe und dass ein Studium der Rechtswissenschaften abqualifiziere. Ghiath konnte beispielsweise in Damaskus wegen der hohen NCs nichts studieren, »mit dem man Geld verdienen kann«. Mit seinem Notendurchschnitt könne er in Deutschland sehr viel mehr studieren. Eine Gemeinsamkeit bestehe darin, dass auch in Syrien die Studenten nur auf die Klausuren fokussiert seien. Man studiere, so Mohamed H., auch nicht, was man mag, sondern was einem der Notendurchschnitt erlaube. Wer Medizin studieren kann, studiert Medizin. »Die Studenten folgen nicht ihren Träumen, sondern ihren Noten.« Ohnehin entscheiden oft nicht das Kind, sondern die Eltern über das Studienfach. Es sei auffallend, dass deutsche Universitäten über ein viel besseres technisches Equipment verfügten, was vor allem bei den naturwissenschaftlichen Fächern enorme Auswirkungen auf die Qualität des Studiums habe. Was die meisten Syrer besonders irritiert, ist, dass es in Deutschland keine Eingangskontrollen gibt. In Syrien betritt man die Universität nicht ohne Studierendenausweis bzw. dem Nachweis, dass man sich immatrikulieren möchte. Die Männer, die das kontrollieren, hält Ghiath für mafiös und sehr stark – im Sinne von »Vitamin B«. Die Kontrollen hätten schon immer stattgefunden, seien jedoch vor dem Krieg wesentlich laxer gewesen. Seit einiger Zeit stattet die Regierung die Security mit Waffen aus. Mal reiche eine kurze Prüfung des Ausweises, mal werde man von oben bis unten durchgecheckt, erzählt Giath. Wenn es am gegebenen Tag Hinweise auf einen Selbstmordanschlag gibt, wird noch schärfer kontrolliert. Auf Order muss alles durchsucht werden: Kleidung, Taschen – alles. Es gibt aber auch absurd-wirkende Ausnahmen. Ghiath sagt: »Du wirst reingelassen, wenn du mit mir befreundet bist, auch ohne auf die Schlange zu achten«, die sich an den Eingängen bildet. Nach Überprüfung der eigenen ID, zeige man auf seine Freunde weiter hinten und diese zögen dann an den anderen vorbei. Es gilt auch modi- schen Auflagen zu genügen: Kurze Hosen für Männer und Frauen sind strikt verboten.
»Wegen des Bürgerkriegs«, sagt Ghiath, »hat sich das Geschlechterverhältnis an der Universität verändert«. In den Literaturfächern habe es schon immer viel mehr Frauen als Männer gegeben, die Diskrepanz sei noch stärker als in Deutschland, aber nun seien viele Männer im Wehrdienst – geflohen oder tot. Ein Freund von ihm habe beschlossen, das Studium abzuschließen und dann erst zu fliehen. Tartus sei sicher und die Universität voller Frauen – das macht die Sache natürlich interessant.

6. »It’s brainwashing all the time.« (Mohamed A.)

Die Regierung beherrscht Schüler, Studenten und Lehrinhalte. Die Verbindung von Bildung, Linientreue und militärischem Drill, wird bereits in der Grundschule zelebriert: Man singe regelmäßig die Nationalhymne in einer Art Parade, so Ghiath. Die Generation seines Bruders habe sogar noch eine Art Wehrdienst an der Schule erlebt. In den Lehrbüchern seien stets Fotos des Präsidenten Baschar und seinem Vater Hafiz al-Assad zu sehen. Fotos hingen ohnehin so-weit Assads Auge reiche. Zum Beispiel sehe man in den Hörsälen Porträts von Hafiz und Baschar – »jetzt vielleicht noch von Putin, Chamene’i und einem Chinesen«.

7. #klartext

Mohamed A. musste sich damals im Gefängnis etwas einfallen lassen, um nicht zu Tode gefoltert zu werden. Drei der sieben Verhafteten starben am Ende. Einer von ihnen hatte als Loyalitätsbeweis angegeben, sein Bruder sei beim Militär. Es stellte sich jedoch her- aus, dass dieser desertiert war und die Seiten gewechselt hatte. Der Mann hatte davon nichts ge-wusst. Mohamed A. selbst war in der Revolution aktiv gewesen und hatte viel Video- und Textmaterial auf seinem Handy gespeichert. Ein selbst verfasster Artikel steckte an jenem Tag in seiner Tasche. Kurz vor seiner Verhaftung im Bus zerbrach er seine Memory Card und schmiss sie aus dem Fenster. Später simulierte er im Gefängnis einen epileptischen Anfall. Da er als Kind daran erkrankt war, wusste er, wie das auszusehen hatte. Die Regierungsmiliz überprüfte das akribisch: Er sollte die Medikamente und deren chemische Zusammensetzung angeben, ein Arzt musste die Diagnose bestätigen. Die Epilepsie rettete ihn vor den Schlägen während des Verhörs. »Stehst du zu Baschar?«  Er log: Er bewundere Hafiz al-Assad, Baschar ebenso, doch dieser hätte einen Fehler gemacht. Er hätte die Stadt Daraa nach den Protesten vernichten und vollständig von Vaterlandsverrätern säubern sollen. Am Ende des Interviews fragt Mohamed A. mich nach deutschen Philosophen – ich nenne unter anderem Kant und denke: »Welcome, Mohamed, to the country of the kategorischer Imperativ. You don’t know what this is? It doesn’t matter. After all, it wouldn’t have saved your life.«

 

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