Kein Aber

Kein Aber

Das Studium – der erste Entgrenzungsversuch. Jetzt, wo alles möglich ist, beginnen Prinzipien und Werte gefährlich zu wackeln. Freiheit pur? Denkste!

Illustration: Basl
Illustration: Basl

Mein Zimmer ist 15 Quadratmeter groß. Mit Möbeln, Bücherstapeln und Geschirrbergen kann es hier recht eng werden. Gar nicht zu reden davon, was passiert, wenn man versucht, die Tür aufzumachen. Und die mache ich oft auf. Schließlich will ich etwas mitkriegen von der Welt. Häufig sperre ich mich aber auch ein, zu verschiedenen Zeiten, mit verschiedenen Leuten. Schließlich interessiert es keinen, wann ich komme oder gehe und mit wem.

Das war einmal anders. Da gab es Mama, die aufgepasst hat, dass man im Winter eine Mütze aufsetzt oder nachts zu einer christlichen Zeit nachhause kommt – und zwar nicht mit dem gepiercten Nachbarsjungen. Doch das war in einem anderen Lebensabschnitt, in einem anderen Zimmer, zu dem ein Gang führte, der allein schon 15 Quadratmeter groß war. In dem Maße, in dem die Zimmergröße und der Komfort abnehmen, nimmt die Freiheit zu. Was wohl passieren würde, wenn ich in einem Zelt leben würde oder in einem Baumhaus? Weg mit allem, was Luxus ist, auch mit Mamas Mützen – selbst wenn sie kuschelig waren und mit viel Liebe gestrickt.

Warum bin ich nicht nackt an der Donau?

In einem Lebensabschnitt, in dem man alles ausprobieren kann, sind es oft nur tief emotional verankerte Prinzipien, die uns davon abhalten, nackt an der Donau entlang zu spazieren. Mit keinen alten Regeln mehr konform gehen zu müssen, ist an sich schon einmal ein schwieriges Unterfangen. Wer aber jeden Tag neue Leute mit neuen Ansichten trifft, beginnt sicher, Althergebrachtes in Frage zu stellen. Warum schlafe ich eigentlich nachts und nicht wie, der Typ da drüben, nur sonntags? Wieso habe ich mich für BWL entschieden? Soziale Arbeit klingt doch auch ganz gut. Sind Messer und Gabel nicht viel zu spießig?

Wenn es kein Richtig und Falsch mehr gibt, müsste die Freiheit eigentlich perfekt sein. Seinen eigenen Regelkatalog, basierend auf irgendwelchen Urinstinkten, Zufall und »dem, was die anderen machen«, könnte man sich jetzt ohne Weiteres zusammenstellen. Doch irgendwo wohnt da ein großes ABER im Gedankengewaber eines Studentenhinterkopfes. Meistens tritt dieses hässliche ABER in Kombination mit Wörtern wie »Arbeitsplatz«, »Zukunft« oder »Vernunft« auf, zum Monatsende vielleicht mit »leerer Kühlschrank«. Mit Sicherheit wird keiner dieser Begriffe Jugendwort des Jahres. Das sind alte Wörter! Erwachsenenwörter, keine Begriffe, die ein Studentenhirn so mir nichts, dir nichts selbst ausspuckt. Die Zukunftsängste haben uns unsere Eltern und ihnen schon unsere Großeltern in die Wiege gelegt: das große ABER.

Grenzen, die uns in Fleisch und Blut übergegangen sind

Genau dieses ABER, diese Angst vor Konsequenzen, die Panik davor, dass etwas zu viel Spaß macht, hat uns schon früher davon abgehalten, jeden Tag Schule zu schwänzen. Vielleicht ist das auch gut so. Mal ehrlich: Mama hätte, so nackt an der Donau herumstolzierend, wohl kaum Zeit, ihre Kinder zu betüddeln und aus uns wären mützenlose, freche Bratzen geworden. Nur bleibt uns aufgrund unserer Erziehung häu“g verwehrt, echte Verantwortung zu lernen. Sie ist als uns moralisch abwatschende Instanz schon in unseren Köpfen vorhanden. Eine Mischung aus Regeln und Grenzen, die uns – vielleicht mit einer homöopathischen Prise eigener Erfahrungen – in Fleisch und Blut übergegangen ist. Das ist bequem.

Wer will schon den Ofen selber anfassen, um zu testen, wie heiß er ist. Andererseits: Mit einer verkohlten Hand sitzt die Erfahrung de“nitiv tiefer. Einen Teil der eigenen Vernunft selbst zu erlernen hat, auch unsere Eltern schon zu denen gemacht, die sie sind. Also vielleicht mal einen Finger in den Topf halten, um zu schauen, ob das Wasser schon kocht? Kochen kann man jetzt ja auch selbst, in den eigenen, grenzenlosen 15 Quadratmeter.
Mit Mamis Kochtopf.

Text: Marlene Fleißig

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