Die nächste Apokalypse kommt bestimmt

Die nächste Apokalypse kommt bestimmt

Gekommen, um zu bleiben: Die Krise hat sich gemütlich eingerichtet in unseren Häusern und Köpfen, im Tagesrhythmus werden wir mit immer neuen Hiobsbotschaften konfrontiert. Doch die Dauerhysterisierung muss früher oder später in Indifferenz umschlagen.

Es gibt Jahre, die scheinen auf alle Ewigkeit mit einem bestimmten Großereignis verknüpft : 1969 die Mondlandung, 1989 der Mauerfall, 2001 die Anschläge des 11. September. Und dann gibt es Jahre, bei denen man nicht so genau weiß, was man von ihnen halten soll, Jahre, deren tatsächliche weltgeschichtliche Bedeutung bestenfalls der zeitliche Abstand zu klären vermag. 2011 war so ein Jahr: Was davon wirklich bleibt, kann niemand genau sagen; festhalten lässt sich allenfalls, dass viele beim Gedanken an die vergangenen zwölf Monate ein flaues Gefühl in der Magengrube beschleicht. Das Gefühl, dass die Welt irgendwie aus den Fugen geraten ist.

Jeder Versuch, dieses diffuse Gefühl mit Erklärungen zu unterfüttern, scheint indes zum Scheitern verurteilt. In Zeiten, in denen sich die großen, ideologisch aufgeladenen Gut-und-böse-Deutungsmuster überlebt haben, bleibt nur, den Plot jener Stücke nachzuerzählen, die auf der weltgeschichtlichen Bühne aufgeführt werden. Wir sehen junge Menschen, die sich wieder an die Systemfrage wagen und die sich – siehe Occupy-Bewegung – empören über einen entfesselten Kapitalismus, der weniger als je zuvor für den Menschen da zu sein scheint und in den letzten Jahren den Rahmen bot für all die perfiden finanzmathematischen Zahlenspiel deren Auswüchse ganze Generationen belasten könnten; aber wie viel von der Kritik der Occupy-Aktivisten war tatsächlich konstruktiv? Wir sehen eine arabische Welt, in der man sich in vielen Ländern gegen autoritäre Regimes erhebt; aber wird in diesen Staaten am Ende der revolutionären Bewegung tatsächlich jene freiheitliche Gesellschaftsordnung stehen, die uns in der westlichen Welt als Nonplusultra gilt?

Ausgang ungewiss – das gilt für beide Bewegungen. Eines ist dabei offensichtlich: Wenn das Volk in dieser Weise seine Stimme erhebt und Selbstbewusstsein demonstriert, ist das eigentlich ein Grund zum Jubeln. Gleichzeitig aber leuchten diese Bewegungen so hell, weil sie vor einem dunklen Hintergrund erschienen sind: Sie sind letztlich Krisensymptome, denn sie zeigen auf eindringliche Weise, dass das Vertrauen in die Politik schwindet – und das sowohl innerhalb straff geführter Regimes als auch in westlichen Demokratien. Auch hierzulande werden die Zweifel lauter, ob das, was die Politiker tun, tatsächlich dem Volkeswohl dient.

So sind denn auch im vergangenen Jahr mindestens zwei Krisenkomplexe aufeinander geprallt und haben sich gegenseitig verstärkt: die Funktionskrise des globalen Kapitalismus in seiner marktradikalen Auslegung und die Legitimationskrise der politisch Verantwortlichen, die diesen Kapitalismus in den letzten Jahren weniger zu zügeln gewillt waren als jemals zuvor. Gerade jetzt aber, da allenthalben die Rede ist von einer gigantischen Finanz, Schulden- und Währungskrise, die ganze Staaten in die Knie zu zwingen droht, wären unabhängige Politiker gefragt.

Das gilt auch deshalb, weil in der westlichen Welt mit der ökonomischen auch die weltanschauliche und politische Stabilität gefährdet ist. So keimen in Europa zunehmend Gefühle, die man – zumindest im Großen und Ganzen – schon überwunden geglaubt hatte: Fremdenfeindlichkeit und Fundamentalismus können, wie die Wahlergebnisse zahlreicher rechtsextremer europäischer Parteien, aber auch das Attentat von Oslo und Utøya gezeig haben, auch in aufgeklärt-säkularen, demokratischen Staaten bestenfalls eingedämmt, nie aber restlos getilgt werden. Die von Anders Behring Breivik ausgeführten Anschläge, die sich ja vorgeblich gegen Islam und »Kulturmarxismus« richten sollten, mögen einem durch und durch kranken Hirn entsprungen sein; und doch ist es möglicherweise kein Zufall, dass sie in eine Zeit fallen, in der auch in den wohlhabenden europäischen Ländern der gesellschaftliche Druck zunimmt, in der der Wohlstand bedroht ist und die Konfrontation mit Fremdem und Neuem unumgänglich scheint.

Die alten Ordnungen wanken, der Druck steigt: Wie lässt sich diese Situation meistern? Eine klare, markant konturierte politische Führung durch die gewählten Volksvertreter wäre ein Anfang. Wo der politische Opportunismus herrscht, wird die allgemeine Verunsicherung noch mehr zunehmen. Es ist beispielsweise bezeichnend, dass unsere Kanzlerin unter dem unmittelbaren Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima die erstaunliche Erkenntnis, dass »extrem unwahrscheinliche Ereignisse eben doch eintreten können«, als hinreichende Begründung für eine halsbrecherische politische Volte in Richtung Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg erachtete. Natürlich hat sich an der Sicherheit oder Unsicherheit der deutschen Reaktoren durch Fukushima nichts geändert. Nein, die Kanzlerin tat schlicht das, was das Volk, das im Anschluss an die Ereignisse von Japan verständlicherweise beunruhigt war, wollte, und zwar weil es das Volk wollte – und nicht, weil es richtig war.

Einmal mehr reagierte die Politik, anstatt zu agieren, ließ sich von den hysterisierten Massen treiben, anstatt auf der Grundlage fester Prinzipien zu gestalten. Letzteres aber sollte man als Bürger doch in Krisenzeiten erwarten dürfen. Oder ist die Hoff nung, die Politiker möchten’s bitteschön richten, mittlerweile nicht zur reinen Utopie verkommen? Sind wir etwa bereits an einem Punkt angelangt, an dem die Probleme so global und komplex und ihre Konsequenzen so weitreichend sind, dass ihre Lösung die Versöhnung unvereinbarer Interessen und damit die Quadratur des (Erd-)Kreises bedeutete? Muss da nicht jede Form herkömmlicher Politik an ihre Grenzen stoßen?

Die mangelnden Fortschritte in Sachen Klimapolitik und Finanzmarktregulierung lassen eben dies vermuten. Wenn sich aber die Länder der Welt in den entscheidenden Fragen nie einig werden können, bilden dann nicht die Krisen – seien sie ökologischer, ökonomischer oder völkerrechtlicher Natur – die einzig mögliche Daseinsform jeder wahrhaft globalisierten Welt? In Zeiten des Kalten Krieges, als die politische Weltkarte noch in Schwarz und Weiß gehalten war, gestaltete sich die Sache eindeutig. Es dräute das eine, schier unvorstellbare Horrorszenario eines nuklearen Weltkrieges zwischen West und Ost. Das war eine so bedrückende und dabei so einfach zu verstehende Konstellation, dass die Furcht vor dem Ernstfall tief in der Bevölkerung verankert war – und sich umso tiefer ins allgemeine Bewusstsein eingrub, je lautstärker die Drohgebärden der Staatenlenker wurden. »In Europe and America, there’s a growing feeling of hysteria”, sang Sting auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Es war eine Hysterie, die sich auf das größte anzunehmende und um jeden Preis zu verhindernde Unheil bezog: das Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen. Es war eine andere Hysterie als jene, die sich heute breitmacht.

Die gegenwärtige Krisenhysterie nämlich setzt sich aus einer Vielfalt von vermeintlichen und echten Schreckensmeldungen zusammen, deren Bedeutung und Tragweite oft unklar erscheint. Sie ist ein komplexes sozialpsychologisches Phänomen, das ihren Niederschlag in vielerlei Weise findet: wenn Menschen Haferflocken und Apfelmus horten, weil sie befürchten, dass die eigene Währung bald  schon am Ende sein wird; wenn Verbraucher vollkommen auf den Verzehr von Gemüse verzichten, weil die Nachrichten voll von todbringenden Sprossen sind; wenn Politiker in der Terrorparanoia immer neue Sicherheitsgesetze erlassen, die weitgehende persönliche Freiheiten für ein Quäntchen mehr Sicherheit drangeben – oder eben wenn sie sich gleichsam aus dem Nichts zu einem überhasteten, zwar richtigen, aber falsch begründeten Blitzausstieg aus der Kernenergie entschließen.

Heute kommt der Weltuntergang in homöopathischen Dosen. Potenzielle und reale Katastrophen unterschiedlichen Ausmaßes müssen, bedingt durch die Umstände ihrer medialen Vermittlung, mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehen: Die Schlagzeilen der Nachrichtenportale wechseln beinahe im Minutentakt, Politskandal, Kurssturz, Störfall, ein einziger Nachrichtenbrei. Als Verbraucher, Bürger, politischer Mensch lechzt man da umso mehr nach Gewichtung, nach einer Antwort auf die eine Frage: Wie ernst ist die Lage wirklich? Je komplizierter jedoch die Gemengelage der Fakten ist (Kernphysik und Finanzmärkte lassen grüßen), desto seltener kann diese Frage kompetent beantwortet werden, nicht von den Medien, nicht von den Parlamenten, aber allzu oft ebenso wenig von den ausgewiesenen Experten. Dabei wäre das Bedürfnis nach verständlichen Deutungen, nach zusammenhängenden Erzählungen hinter den abstrakten Zahlen- und Faktenbergen riesig. So ist es denn auch kein Zufall, dass eines der wirkmächtigsten Bücher des vergangenen Jahres zur Finanzkrise nicht von einem Ökonom, sondern mit Joseph Vogls »Das Gespenst des Kapitals« von einem Literaturwissenschaftler stammt.

Von der Schuldenkrise über den Terrorismus bis zur Erderwärmung: Jene Bedrohungsszenarien, die ein Ende unseres von Wohlstand und Freiheit geprägten Lebens bedeuten könnten, scheinen sich in letzter Zeit zu mehren, Crisis Management wird zum Alltagsmodus. Der Alltag aber ist der Feind der Hysterie; diese nämlich ist immer eine unmittelbare, dringliche und drängende Gefühlsregung, die sich nicht auf Dauer aufrecht erhalten lässt. So scheint es geradezu so, als könnte die historische Bedeutung des Jahres 2011 gerade darin liegen, dass wir gelernt haben, dass es im Angesicht der Dauerkrise keinen Grund gibt, in Hysterie zu verfallen. Ob man das nun gut oder schlecht findet, eines steht doch fest: Man gewöhnt sich an alles. Wenn’s sein muss, sogar an die Apokalypse.

 

Text von Franz Himpsl

Foto von Lisa Steindl

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